„Fragen stellen – Antworten finden“

Reiner Engelmann mit seiner Lesung zu „Der Buchhalter von Auschwitz“ zu Gast an der Europaschule BBS Boppard. Sachkompetent und voller Überzeugung in seinem Einsatz für Würde und Menschenrechte stellte Reiner Engelmann auf Einladung des Pädagogik-Lehrers Per Layendecker sein Buch zum SS-Mann Oskar Gröning an der BBS Boppard vor.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – der Leitsatz des deutschen Grundgesetzes gibt das Kernanliegen des Sozialwissenschaftlers und Sachbuchautors Reiner Engelmann prägnant wieder. Aufgewachsen im „Erinnerungsk(r)ampf“ der bundesdeutschen Nachkriegszeit setzte er sich in den 60er Jahren mit der deutschen Gewaltgeschichte im Nationalsozialismus auseinander. „Ich hatte so viele Fragen und kaum Antworten“, umschreibt er seine Forschungsmotivation. Damit stand er nicht allein, zeichnete sich das gesellschaftliche Leben in der jungen Bundesrepublik doch mehrheitlich durch eine wirtschaftliche Aufbruchsstimmung bei gleichzeitiger Verdrängung der eigenen Verantwortung für die deutschen Verbrechen, die sich als „Zivilisationsbruch“ in das kulturelle Gedächtnis der Menschheit eingebrannt haben, aus. Die millionenfache Verfolgung und Ermordung von Minderheiten und Andersdenkenden war bis zu den Auschwitz-Prozessen ab 1963 in der deutschen Öffentlichkeit kaum ein Thema. „Ich will nichtzur nächsten Generation gehören, die zu Menschenrechtsvergehen schweigt“, erklärt er den Schülerinnen und Schülern, warum er seine Recherchen zu den Verbrechen des faschistischen Völkermords begann. Entstanden sind daraus zahlreiche Sachbücher zur Gewaltherrschaft im Nationalsozialismus und zum gegenwärtigen Rechtsextremismus, zur Aufarbeitung von Erinnerung und Vergangenheit und zur Diskriminierung im heutigen Alltag.Entscheidend für sein gesellschaftliches und schriftstellerisches Engagement sei der Blick auf den einzelnen Menschen – auf dessen Leben, Rechte und Würde –, umriss das engagierte Amnesty-Mitglied Engelmann den Fokus seines Schreibens: „Wir wissen, dass in Auschwitz eine Millionen Menschen ermordet wurden. Aber was sagt diese Zahl? – Dahinter verschwindet der einzelne Mensch“, beklagte Engelmann. Genau dem geht er in seinen Büchern nach, so auch in dem 2018 im cbj-Verlag erschienenen Titel „Der Buchhalter von Auschwitz. Die Schuld des Oskar Gröning“.Oskar Grönings Weg führte von der nationalistischen Kindheitsprägung durch seinen Vater über die Jugend-Organisation im stramm patriotischen und völkischen „Stahlhelm“ und die „Hitler-Jugend“ zum freiwilligen Eintritt in die Waffen-SS noch während der Banklehre. An seinem nationalsozialistischen Eifer änderte auch seine jüdische Kindheitsfreundin nichts. Statt des ersehnten Frontdienstes für das Vaterland erhielt er Einsatzbefehle für verschiedene Konzentrationslager, darunter Dachau und zuletzt Auschwitz als Buchhalter in der Verwaltung des „Häftlingseigentums“. Konfrontiert mit der grausamen Brutalität der systematischen Vernichtung reagierte er zwar geschockt, ließ seine Bedenken aber von beschwichtigenden Vorgesetzten zerstreuen und blieb schließlich in Auschwitz. Nach dem Krieg gelang ihm nach glimpflicher Gefangenschaft eine Karriere als Personalchef und ehrenamtlicher Richter. Für die Vergangenheit galt für ihn die Devise „Frag mich nicht!“, wie er seiner Frau befahl. Lange Zeit sprach er nicht über Auschwitz und verdrängte es erfolgreich, bevor er schließlich doch den Mut fand, sich einem Auschwitzleugner entgegenzustellen. 2005 bestätigte er in Interviews mit der britischen BBC und dem „Spiegel“ öffentlich die Existenz der Vernichtungslager. Da er nicht direkt an Tötungshandlungen beteiligt war, trat er in verschiedenen Prozessen zunächst als Zeuge gegen NS-Verbrecher auf, bevor 2015 selbst vor dem Landgericht Lüneburg angeklagt und schließlich in diesem letzten großen Auschwitz-Prozess wegen Beihilfe zu 300.000fachem

Mord zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Auch wenn er weder den Massenmord in Auschwitz noch seinen Aufenthalt dort leugnete, wie es viele NS-Kriegsverbrecher taten, verfing er sich mit seinen Aussagen vor Gericht doch auch immer wieder in einem entlarvenden SS-Jargon, der das zynische Menschenbild der Täter offenlegte: So antwortete er beispielsweise auf die richterliche Frage nach dem Vermögen der ermordeten Häftlinge mitleidlos: „Die Juden brauchten es ja nicht mehr.“ Wichtig an dem Prozess sei weniger die Urteilshöhe gewesen, so Engelmann, sondern die gerichtliche Klarstellung: „Auschwitz war eine Mordmaschinerie, jeder, der dort gearbeitet hat, hat sich schuldig gemacht – sei es als Buchhalter, Aufseher oder Mörder.“

Neben der schriftstellerischen Motivation diskutierten die Schülerinnen und Schüler im Anschluss an die Lesung mit Reiner Engelmann insbesondere Fragen der Gegenwartsrelevanz des Themas. Für Engelmann steht fest: „Die Taten der Geschichte können wir nicht mehr ändern, aber wir können der einzelnen Opfer und ihrer schlimmen Schicksale gedenken. Und wir können und müssen aus der verbrecherischen Geschichte lernen.“ Das heißt für ihn: Zivilcourage im Alltag gegen Diskriminierung zeigen und von der Politik konsequentes Eintreten für Menschenrechte fordern. Hierin sieht auch Gastgeber und Moderator Per Layendecker ein wichtiges Ziel schulischer Erziehungs- und Bildungsarbeit: „Wir müssen in der Schule immer wieder die Bedeutung überzeitlicher Werte von Respekt und Würde verdeutlichen.“ Dem pflichtete Schulleitungsmitglied Dr. Benedikt Descourvières bei: „Wir müssen und wollen – gerade mit Blick auf unser Engagement als Europaschule – durch unsere Werteerziehung einen Beitrag leisten, dass Schülerinnen und Schüler ein Gespür für soziale Ausgrenzungs- und Stigmatisierungstendenzen entwickeln und hierzu eindeutig Stellung beziehen können.“