„Glück muss man haben“
Seit dem Schuljahr 2022/2023 hält das Schulfach Glück Einzug in die Klassen des Berufsvorbereitungsjahres. Dabei geht es nicht um Dauerbespaßung, sondern um Persönlichkeitsförderung. Das Schulfach Glück soll den jungen Menschen helfen, sich selbst zu erkennen, zu entfalten und zu stärken.
Das Schulfach „Glück“ an der Europaschule BBS Boppard
Glück lässt sich also lernen und üben, aber wie? Der Glücks-Unterricht an der BBS Boppard lüftet mit den Jugendlichen dieses Geheimnis. Vorläufige Höhepunkte waren der ganztägige Workshop „Tag der Achtsamkeit“ des Koblenzer Glücks-Coachs Dirk Gemein und die „Glücksfabrik“ im Rahmen der Europa- und Demokratiewoche an der BBS Boppard.
Frühjahr 2022 im Jahr 1 nach den großen Schulschließungen: Die Pädagogik- und Religionslehrerin Helen Saal liest einen Artikel über die Weiterbildung zur Unterrichtsqualifizierung für das Schulfach Glück, der sie selbst mit Glück erfüllte. „Das wäre auch etwas für unsere Schule, vor allem für Jugendliche mit emotionalen Startschwierigkeiten und erst recht nach den Corona-Lockdowns mit all ihren Folgen für den Gefühlshaushalt der Menschen,“ schildert sie ihren Erstkontakt mit der Glücks-Initiative. Es sollte nicht bei edlen Vorsätzen und Gedankenspielen bleiben. Unterstützt von der Schulleitung schrieb sie sich noch vor den Sommerferien für die Weiterbildung zum Schulfach „Glück“ ein. Dafür investiert sie seither regelmäßig Teile ihrer Ferien und Wochenenden. Zudem konnte sie ihre Kollegin Lynn Valler als engagierte Mitstreiterin gewinnen. Als Tandem stimmten sie sich schon in den Sommerferien ab und unterrichten nun parallel in zwei Berufsvorbereitungsklassen. Beide sind beseelt von der neuen Perspektive: „Wir erleben das Schulfach Glück als große und erfüllende Aufgabe. Es geht uns darum, mit den Jugendlichen Strategien zu ergründen, um die Herausforderungen des täglichen Lebens sowie die altersgemäßen Bedürfnisse nach Geborgenheit, Sinnerfahrung und Orientierung zu bewältigen“, fasst Lynn Valler die Motivation für den Glücks-Unterricht zusammen.
Was aber ist nun Glück und wie finde ich es? Die Frage dürfte annähernd so alt sein wie die Menschheit selbst. Und nur allzu oft verwechseln die Menschen das Glück mit einmaligen außerordentlichen Ereignissen, die gleich einem Wunder das eigene Leben in die Sphären nahezu paradiesischer Wonnen katapultieren. Ebenso alt wie die Frage nach dem Glück dürfte jedoch auch die Erkenntnis sein, dass sich solche fulminanten Umbrüche in ein vermeintlich sorgenfreies Leben eher selten ereignen. Um was also geht es dann im Schulfach „Glück“? Unterrichtsinhalte sind beispielsweise die Themen „Freude am Leben“, „Freude an der eigenen Persönlichkeit“, „Glück des Augenblicks und auf Dauer“. Es geht immer darum, die Sinne und Aufmerksamkeit der Jugendlichen für das oft übersehene und unterschätzte Glück im Alltag zu schärfen: Dazu gehören sinnliche Eindrücke, zum Beispiel von Farben, Formen, Lauten und Gerüchen, ebenso wie die Erfahrungen sozialer Nähe: „Was gibt es Beglückenderes und Stärkenderes als eine funktionierende Freundschaft, als das Gefühl von Nähe und Geborgenheit?“, fragt Helen Saal im Unterricht. „Es kommt darauf an zu ergründen, was ich brauche, um dauerhaft glücklich zu sein. Und ich muss bereit sein, dieses zuzulassen“, ergänzt Lynn Valler. In den Kursen von Helen Saal und Lynn Valler geht es grundsätzlich um die Fragen „Wer bin ich?“, „Was kann ich?“, „Was möchte ich erreichen?“ und „Wie kann ich meine Ziele mit meinen Stärken erreichen?“ Dabei werden die beiden Lehrerinnen nicht müde, ihre Schützlinge für die Bedeutung von Glückserfahrungen zu sensibilisieren. „Menschen mit gesicherter Glückserfahrung sind emotional starke Menschen und können sich so zu charakterstarken Persönlichkeiten entwickeln, die ihr Glück aktiv wahrnehmen und damit auch achtsam und sorgsam mit sich und ihren Mitmenschen umgehen“, zeigen sich Saal und Valler überzeugt.
Für ihre besondere Mission scheuen beide auch nicht besondere Maßnahmen: So organisierten sie im Herbst zusammen mit dem Glücks-Coach Dirk Gemein einen erlebnisorientierten „Tag der Achtsamkeit“ im Koblenzer Klostergut Besselich. Dorthin lud sie Gemein in seinen stil- und stimmungsvoll eingerichteten Gewölbekeller ein, der ihm als Glücks-Atelier dient. Stehend, sitzend, liegend erfuhren die Jugendlichen anschaulich und am eigenen Leibe, wie man sich für Glückserfahrungen öffnen kann: Dies funktioniert zum Beispiel über die angenehmen und beruhigenden Töne der Klangschale oder darüber, dass sich die Menschen auf Meditation und Entspannungsübungen einlassen. „Das Glück findet ihr nicht in all dem, was ihr euch kaufen könnt“, führt Gemein aus. „Natürlich benötigt ihr wie alle Menschen Geld, um die Grundbedürfnisse nach Essen, Wohnung, Kleidung, Wasser, Heizung etc. zu befriedigen. Wenn all das aber gesichert ist, finde ich das Glück nicht im Konsum. Das schafft nur kurzfristige Ersatzbefriedigung und es hat einen Haken: Was macht ihr, wenn ihr kein Geld mehr für Handys, Kleider, Autos und Freizeitaktivitäten habt?“ Diese Leitfrage stand den ganzen Tag im Mittelpunkt des Workshops, der für die meisten Jugendlichen eine großartige Erfahrung war. Trotz vorgerückter Nachmittagsstunde wollte kaum einer so richtig nach Hause. Die Suche nach dem Glück hatte sie gepackt.
Inspiriert vom Ausflug in das Glücks-Atelier Dirk Gemeins präsentierten Saal und Valler im Rahmen der Europa- und Demokratiewoche an der BBS Boppard ihre eigene Glücksfabrik. „Hier geht es darum, sich auf die Frage einzulassen, was mich dauerhaft und wirksam glücklich macht“, erläutert Helen Saal das Ansinnen ihrer Glücksfabrik. Dazu dienten Reflexions-Impulse zu den eigenen Stärken ebenso wie das „Glückskreuz“ und das Erstellen eigener Glücksbringer – eine Tätigkeit, die viele Besucher und Besucherinnen magisch anzog. Demokratie, so lernen wir, ist mitnichten Glückssache, sie braucht starke Persönlichkeiten, die ihr Glück nicht auf Kosten anderer suchen.
Mit ihrer Arbeit stehen Helen Saal und Lynn Valler nicht allein. Die Inhalte des Faches „Glück“ basieren auf den Konzepten von Ernst Fritz-Schubert, dem geistigen Vater dieses Schulfaches. Als Heidelberger Schuldirektor brach er dem Glück die Bahn in den schulischen Fächerkanon. Zusammen mit einem Experten-Team führte er 2007 fundamentale Erkenntnisse der Glücksforschung in einem Lehrplankonzept zusammen, das heute als Pionier in der Entwicklung des Schulfaches „Glück“ gilt. Das von ihm zur Glücksausbildung von Lehrkräften gegründete „Ernst Fritz-Schubert-Institut“ wirbt dabei mit etlichen wissenschaftlichen Studien, die die positiven Auswirkungen des Glücksunterrichts auf Jugendliche belegen: mehr Selbstwert, mehr Sinn im Leben, mehr Plausibilitätserfahrung, klarere Ziele, mehr Selbstkontrolle, mehr Sozial- und Teamkompetenz und im Gegenzug weniger Flucht in zweischneidige Ersatzbefriedigungen. Seit Ernst Fritz-Schuberts Pionierleistung im Jahre 2007 findet sich das Fach auf dem Stundenplan von über 100 Schulen in Deutschland, Österreich, Südtirol und der Schweiz – nun auch an der BBS Boppard, an der bereits darüber nachgedacht wird, das unterrichtliche Glücksangebot auf weitere Klassen und Bildungsgänge auszuweiten.